Grundgestalt und Verbreitung des Schamanismus

Von Prof. Dr. Christian Scharfetter



Der Begriff Schamane - in der heutigen kulturübergreifenden (emischen) Bedeutung des Terminus - meint einen in selbstinduzierten besonderen Bewusstseinszuständen (Außeralltagsbewusstsein) wirkenden Helfer der Menschen seiner Gruppe in vielen Nöten ihres Lebens. Der Schamane ist Mittler zwischen der gruppengemeinsamen Alltagsrealität, der Diesseitswelt, und der transintelligiblen Anderwelt. Nicht jede Art Heiler ist ein Schamane. Schamanisches Wirken ist nicht auf das Heilen einzuengen.

Auf der Kulturstufe, welche den Schamanen als notwendige Institution hervorbringt, ist alles Diesseitig-Gestalthafte der Alltagsrealität "unterlegt" von transintelligiblen Kräften, Geister genannt. Auch das Gewöhnlich-Alltägliche ist dem Menschen dieser Kosmologie Hierophanie.
Der Schamane ist der (männliche oder weibliche) Spezialist der Beziehung zwischen der Alltagsrealität und der transzendenten Welt, noch vor der Spaltung in profan und heilig-numinos.
Der Schamane ist Träger und Übermittler der Anthropologie, Kosmologie, Religion seiner Sozietät.
Zur Aktualisierung seiner Begabung wird er durch besondere Erfahrungen (Vorzeichen, Träume, Visionen, Krisen gesundheitlicher Art) spontan oder nach eigener Suche gerufen. Nach der Initiation erfolgt die oft jahrelange Lehre.
Je nach Bedarf seiner Mitmenschen stellt der Schamane seine Kräfte als vermittelnder Helfer in der Ekstase zur Verfügung. In der schamanischen Séance geschieht, wie Findeisen (1) achtungsvoll sagt, eine Setzung, ein In-die-Welt-Setzen von einordnenden, wiederherstellenden Sinnverbindungen zwischen der Menschenwelt und dem außermenschlichen, übernatürlichen Geisterbereich.

In diesem Sinne ist der Schamane eine herausragende religiöse Wirkgestalt. Er ist wichtigster religiöser Funktionsträger in der archaischen, präsäkularisierten Kulturwelt der Jäger- und Sammlervölker und der nomadisierenden Viehzüchter, Gesellschaften vor der Entstehung von Hochreligionen mit ihren priesterlichen Vermittlern, Propheten und Reformatoren.
Das tungusische Wort Schaman scheint für die Tungusen ein Fremdwort zu sein. Die Herkunft ist unbestimmt. Vielleicht stammt das Wort aus dem Sanskrit Sramana: der religiöse Praktiker der Askese. Von dort könnte das Wort nach Asien gekommen sein, in das Königreich Shahn als Samana, nach China als shaman, nach Japan als shamon (2).
Der Schamane findet sich in der klassischen Grundgestalt bei vielen Völkern des eurasischen Raumes, ähnliche Funktionsträger gibt es aber auch in Nord- und Südamerika, in Ozeanien, Australien, Afrika. Die lokalen Modifikationen sind zahlreich. Abkömmlinge des Schamanentums, vielfach mit christlicher Überlagerung, sind auch in den säkularisierten Kulturen Europas, Asiens, beider Amerikas aufzuspüren. In vielen dieser Kulturen bestehen schamanistische Traditionen weiter: bei den nicht-akademischen Heilern (Medizinmann, Curandero), bei den Priestern, Wahrsagern, Traumkundigen, Orakelkündern, Tempelheilern, Wunderheilern (Siddha in Indien) sowie im Zauberer und in der Hexe. Schamanistische Elemente sind auch noch Bestandteil von Ritualen einiger Hochreligionen, z. B. im Exorzismus, in der Beschwörung, in der Taufe, in den Bräuchen zur Hochzeit, bei Krankheit und Tod, im Segnen von Vieh und Ernte. Die Lebens- und Sterbensbegleitung, die Sorge für das Nachtod- und Wiedergeburtsschicksal sind Beispiele dafür im Vajrayana. Tod und Auferstehung Jesu, Transsubstantiation von Brot und Wein in seinen Leib, sein Blut in der Messe sowie eine Reihe von Funktionen des Priesters bei der Taufe, bei Krankheiten, beim Sterben, in Ernte- und Haussegen sind schamanische Elemente im Christentum. Die Kultivierung der Induktion besonderer Bewusstseinszustände durch Gesänge, Tanz, Rhythmik findet sich z. B. bei den Derwischen der islamischen Mystik.

Konstitutive Elemente des Schamanentums

Eliade (3) nannte den Schamanen den "Meister der Ekstase". Der Schamane ist ein Bewusstseinskundiger, der sich selbst induziert aus dem Bereich des Alltagsbewusstseins in außergewöhnliche Bewusstseinszustände und damit in die Anderwelt begeben kann. Damit wird er erst zu seiner Mittlerfunktion befähigt. Der Schamane stellt die Beziehungen zwischen der sichtbaren Welt des Alltagsbewusstseins und der unsichtbaren transintelligiblen Kräftewelt her. Damit steuert der Schamane die Beziehungen zwischen der menschlichen und außermenschlichen, der sozialen und der asozialen Wirkbereiche. Er ordnet das Verhältnis zwischen der Menschenwelt, der Welt der Tiere, Pflanzen, Steine, der Erde und der Welt der transzendenten Kräfte, der Geister. Durch Berufung und Initiation ist er ein Eingeweihter, ein Mystes, ein Kundiger und ein wirkungsmächtiger Künder und Vermittler der den Menschen im Alltagsbewusstsein unzugänglichen, außermenschlichen, übernatürlichen Kräfte.

Unter den zahlreichen Aufgaben des Schamanen ist das Heilen von Krankheiten eine seiner vornehmsten. Als spiritistischer (das heißt mit Geistern umgehender) Heiler wirkt der Schamane neben anderen Trägern von kurativen Funktionen, neben dem Kräuterkundigen, dem Knochenspezialisten, den verschiedenen Organspezialisten, neben der Hebamme. Der Schamane vermittelt nicht ichhaft, sondern medial immaterielles, nicht technisches, "geistiges" Heilen.  Die Voraussetzung des Heilens ist die Diagnose. Der Schamane hat im besonderen Bewusstseinszustand den diagnostischen Durchblick in den Leib des kranken Menschen. Er "weiß" dann unmittelbar, was der Kern der Erkrankung ist. Im besonderen Bewusstseinszustand der Ekstase geschieht der diagnostische Prozess: das Erkennen der Krankheit und ihrer Ursachen als Voraussetzung für das Finden der rechten therapeutischen Maßnahmen. Es sind zwei hauptsächliche Krankheitsdeutungen des Schamanen zu unterscheiden:

Die meisten physischen Beschwerden können durch das Eindringen böser Geister erklärt werden. Sie zu erkennen und ihre Macht einzuschätzen, ist die Vorbedingung für ihre Austreibung, Bannung. Gleichzeitig hat der Schamane festzustellen, was seinen Patienten so schwächte, dass böse Geister eindringen konnten: Sünde durch eine Tabuverletzung oder schwarze Magie durch übelwollende Nachbarn, durch schwarze Schamanen, durch Hexer und Zauberer.
Krankheiten mit Bewusstseinsstörungen, besonders Bewusstseinsverlust, werden meist als Seelenverlust gedeutet: die Seele wurde geraubt, entführt. Dann muss der Schamane ihren Aufenthaltsort in der Anderwelt feststellen und sie zurückholen. Dazu unternimmt er in der Ekstase die Reise in diese Anderwelten.
Die schamanischen Heilmaßnahmen sind vielfältig, sie sind im wahrsten Sinne psychophysisch. Berührung, Extraktion, Massage, Saugen, magische Chirurgie dienen der Entfernung der materialisierten, aber ursprünglich spirituellen Krankheit. Apotropäisches Bespeien, Anhauchen, beschwörende Rufe und bannende Gesänge, Erzählungen von der Reise und ihre dramatische Ausgestaltung haben eine rekonstruktive Wirkung. Das ganze Heilritual, das Geborgenheit, Führung, Sichanvertrauen vermittelt, kann sich über Stunden und Tage erstrecken. Es wird in Begleitung von Angehörigen vollzogen, vielfach auch der ganzen Gemeinschaft. Dadurch entsteht ein erheblicher gegenseitiger Steigerungsprozess der psychophysischen, emotional affektiven und vegetativen Wirkungen.

Neben dem Heilen hat der Schamane noch viele andere Aufgaben. Er induziert die Konzeption bei der Begattung, begleitet komplizierte Geburten und Wochenbett. Er ist gegenwärtig bei den Initiationsriten und beim Sterben. Dem Schamanen obliegt die Sorge für die Verstorbenen, für die Geister der Ahnen.
Der Schamane ist Opferpriester, der die Geister besänftigt, günstig stimmt, abwehrt. Er ist der Psychopompos, welcher die Seele geleitet, verlorene Seelen zurückholt. Als Thanatopompos begleitet er die Seelen der Verstorbenen in ihren neuen Aufenthaltsbereich.In Not und Krieg ist der Schamane Berater.

Der Schamane ist Lehrer und Wahrer der Kosmologie, der Religion, der Mythologie. In jeder Sitzung erneuert er mit der spürbaren Präsenz der Geister die Religion seines Volkes.
Er ermöglicht die Einbettung des Menschen in seine natürliche Umwelt mit ihren Gefahren. Er sorgt für den Erfolg des Sammelns, des Jagens, des Fischens, für das Gedeihen der Ernte auf den Feldern und Äckern. Er ruft befruchtenden Regen und bannt gefährliche Unwetter und Naturkatastrophen. Er hat Einfluss auf die Fruchtbarkeit von Wild und Haustieren. Durch seine übernatürliche Begabung kann er Verlorenes suchen: Gegenstände, verlaufene Tiere, verirrte Menschen. Er sieht in Vergangenheit und Zukunft, er deutet Träume und Vorzeichen anderer Art. Durch den Einsatz des Wortes, des Gesangs, der Erzählung, der dramatischen Darstellung ist der Schamane Sänger, Musiker, Dichter. In der Herstellung seiner Ausrüstung ist er Handwerker, der um die spirituell-numinose Bedeutung alles bloß scheinbar Materiellen weiß. In der Eintragung der bedeutungsvollen Zeichen und Gegenstände ist er bildender Künstler (4).

Berufung oder Wahl

Zum Schamanen kann eine Frau oder ein Mann irgendwann im Leben spontan berufen werden, sogar gegen den eigenen Willen. Manchmal wird diese Aufgabe auch aktiv gesucht. Oder die Familie, der Stamm trägt den Wunsch an ein Mitglied heran, es möge sich für eine solche Funktion bereit finden. Auch können ältere Schamanen, die ihre Kraft schwinden fühlen, ein Mitglied ihrer Gruppe als Nachfolger erwählen.
Manchmal sind es besondere Vorzeichen in der Schwangerschaft der Mutter und bei der Geburt, durch welche die Berufung angezeigt wird. Bei anderen sind es Träume und Visionen in spontan auftretenden besonderen Bewusstseinszuständen. Häufig sind es besondere Krisen, Leiden, Nöte, Krankheiten, welche den zum Schamanen berufenen Menschen auf diesen Weg zwingen. Frauen können oft spät, nach der Menopause, Schamaninnen werden.

Einweihung, Initiation

In der Einweihung erfolgt das Eigentliche und Wesentliche der schamanischen Befähigung: die Übertragung der Kraft. Diese Kraft, diese Macht ermöglicht es dem Schamanen, Diener der außermenschlichen, übernatürlichen Mächte zu sein und gleichzeitig auch als menschlicher Vertreter der Sozialgruppe wirkmächtig diesen außermenschlichen Kräften gegenüberzutreten. Die "Possession" des Schamanen hat eine doppelte Bedeutung: Aktiv-transitiv bedeutet sie Macht. Der Schamane hat Einfluss auf und Gewalt über die Geister, er kann sie beherrschen, lenken, herbeiholen, bannen. Im passiv-intransitiven Sinn bedeutet Possession, dass der Schamane mit seinem bewussten ichhaften Willen zurücktritt, seine Seele auf die Reise schickt, aus dem Körper austritt und diesen Körper als Wirkstätte von Geister-Kräften zur Verfügung stellt. Dann ist der Schamane zwar noch in seiner leiblichen Physiognomie da, ist aber ein anderer geworden: Metamorphose (5), Transsubstantiation (6). Der Schamane hat dann die Geister impersoniert.

Die Übertragung der Kraft in der Initiation geschieht (wie die Berufung, von der sie sich nicht immer klar unterscheiden lässt) in Traum und Visionen, in Naturereignissen (7), in spontanen oder provozierten Ekstasen oder in der sogenannten Initiationskrankheit. Die sogenannte Schamanenkrankheit ist als Zuschreibung eurozentrischer Beobachter und ihrer übereilten Pathologisierungsneigung erkannt worden (8). Die Initiationskrankheit folgt bei aller Vielfalt der äußeren Erscheinung einem Grundmuster von Zerstückelung und Wiederherstellung, von Untergang und Selbstheilung. Darin ist das Prinzip von Untergang als Voraussetzung der Erneuerung und Wandlung. Es findet sich in verschiedensten Grenzsituationen, in Initiation und Krise, in toxischen und reaktiven und auch in sogenannten schizophrenen Desintegrationszuständen. Die initiale "Krankheit" ist nicht überall bekannt, aber wo sie vorkommt, wird sie als besondere Krankheit unterschieden. Die Symptomaufzählung allein genügt für eine Differenzierung nicht.
Solche Krankheitszustände können sich über Jahre erstrecken. Der Beistand anderer Schamanen und das eigene Schamanisieren sind wichtig für das Bestehen dieser Krise. Fehlen sie, so droht das Abgleiten in eine "gewöhnliche" Krankheit. Wenn der Initiant die sogenannte Schamanenkrankheit besteht, von der Bewusstseinsreise in die Anderwelten zurückkehrt in die Alltagswelt seiner Gemeinschaft, so ist er ein Gewandelter, er besitzt Macht über die Geisterwelt oder kann sich auch als Wirkstätte hilfreicher Geister zur Verfügung stellen. Er hat in der Wiederherstellung "neue Augen" eingesetzt erhalten (9). Er vermag mehr und anders zu sehen als gewöhnliche Menschen.

Lehre

Nach seiner Wahl oder Berufung und nach der Übertragung der Kraft in der Initiation kommt die oft jahrelange Lehrzeit bei einem älteren Schamanen. In dieser Lehrzeit lernt der neue Schamane die Selbstinduktion verschiedener Bewusstseinszustände, das Sich-Hineinversetzen in die Ekstase und die Rückkehr aus dem veränderten Bewusstseinszustand. Er lernt den Umgang mit den Hilfsmitteln zum Schamanisieren, seinen Berufsinstrumenten, seiner Ausrüstung. Er lernt Mythologie, Kosmologie, Anthropologie, die Seelenlehre (10), die Geschichte, die Tradition und Ethik seines Volkes. Er wird zum Geschichts- und Geschichtenerzähler, zum Epiker, zum Lehrer, Berater, geistlichen Führer seines Volkes.

Die besonderen Bewusstseinszustände

Der besondere Bewusstseinszustand des Schamanen wird als Trance, Ekstase, Possession, auch als dissoziierter Bewusstseinszustand bezeichnet (11). Besonders die Bezeichnung "dissoziierter Zustand" weist auf die wichtige Beobachtung hin, dass Realitätsbewusstsein und Selbstkontrolle teilweise auch in der Ekstase erhalten sind, dass der Schamane als "Meister der Ekstase" im Sinne von Eliade wechseln kann zwischen verschiedenen Bewusstseinszuständen.
Die moderne Bewusstseinsforschung (12) hilft, die Techniken der Induktion von besonderen Bewusstseinszuständen durch das Zusammenwirken von pharmakologischen und nichtpharmakologischen Induktionsmethoden zu ordnen. Von den Pharmaka sind es vor allem die verschiedenen Halluzinogene, bei deren Entdeckung, Gewinnung, Zubereitung und Anwendung die Menschheit bedeutende Kreativität bewiesen hat. Im asiatischen Raum spielt auch Alkohol eine Rolle, im südamerikanischen Raum grüner Tabaksaft. Zu den nichtpharmakologischen Methoden der Induktion von veränderten Bewusstseinszuständen gehören Bewegung und Gesang, rhythmisch und exzitatorisch eingesetzt. Dazu kommen Atemtechniken, vor allem Überatmung, Fumigation, Fasten, körperliche Erschöpfung, Torturen, andererseits auch Isolation, Monotonie des Rhythmus in Musik, mit der Trommel und Rassel, durch Singen und Tanz.
Veränderter Bewusstseinszustand bedeutet Erfahrung einer anderen Welt außerhalb des Alltagsbewusstseins mit seiner kontinuierlichen nicht umkehrbaren Zeit und dem dreidimensionalen Weltraum. Die logischen Gesetze des mittleren Tageswachbewusstseins, das Sichausschließen von Gegensätzen und die Stabilität von Identitäten gelten in dieser Anderwelt nicht. Da ist kein stabiles Ich mehr. Selbst die Erfahrungen der verschiedenen Sinne fließen ineinander, wie auch Wahrnehmung, innere Schau, Vorstellung, Fühlen, Ahnen, Zukunfts- und Vergangenheitsschau ineinander übergehen können. In dieser Anderwelt der veränderten Bewusstseinszustände schließt der Tod das Leben nicht aus, vorgeburtliche Existenz geht in nachgeburtliche über. Innen und außen sind nicht mehr geschieden. Gestalten sind vertauschbar in der ständigen Metamorphose animistischen Kräftespiels. Das aus der Perspektive des Alltagsbewusstseins historisch Ungleichzeitige kann dem Menschen im veränderten Wachbewusstsein gleichzeitig erscheinen. - Solcherart ist die andere Wirklichkeit, erfahren im Außeralltagsbewusstsein.

Die funktionelle Bedeutung der veränderten Bewusstseinszustände beim Schamanisieren ist klar. Im veränderten Bewusstseinszustand nämlich ist dem Schamanen das Erkennen (die Diagnose) und das Handeln (die Therapie) möglich. In dem besonderen Bewusstseinszustand der Ekstase geschieht auch die wichtige schamanische Reise. In der Ekstase geht die als vom Leib unabhängig gedachte Seele weg (es ist nur eine von vielen Seelen), der Leib bleibt anwesend. Die Seele kann entweder auf Reisen gehen in die Anderwelt, oder der zurückgebliebene entseelte Leib kann zur Wirkstätte des Schutzgeistes werden. Ist letzteres der Fall, steht der Leib des Schamanen medial zur Verfügung. Das sind zwei Hauptvorgänge in der schamanischen Ekstase: die extrakorporierte Seele geht auf die Reise, um sich der verlorenen Seele des Patienten zu bemächtigen. Oder der Schamane impersoniert im "entseelten" Zustand den Schutzgeist und die Hilfsgeister. Es sind mehrere Stufen, sozusagen Tiefendimensionen der Trance zu unterscheiden (13). Der Schamane beginnt mit oft stundenlangem Trommeln, Singen, Tanzen, Springen, Anrufen der Geister und inszeniert dabei imaginäre, verbale und averbale dramatische Darstellungen des Geschehens auf seiner Seelenreise. Schließlich erreicht er einen "wilden", ekstatischen, agitierten Höhepunkt der Trance. Diese kann manchmal mit Zuständen der Bewegungslosigkeit und Starre enden. Die Tiefe der Trance kann während der Session mehrmals wechseln.

Der Schutzgeist und die Hilfsgeister

Der persönliche Schutzgeist des Schamanen ist sein wichtigster Helfer. Er wird in der Inititation "gefunden", entdeckt, erworben. Oft ist es der Geist der schamanischen Vorgänger, deren Funktion der Initiant zu übernehmen hat. Entsprechend der Kulturstufe der Jäger und Sammler und der nomadisierenden Tierzüchter tritt der Schutzgeist häufig als Tier in Erscheinung. Er nimmt die Gestalt der Tiermutter an. Die Tiermutter des Schamanen zieht diesen auf, verschlingt seine Seele und gebiert sie wieder als Tier: das ist die Geburt des Schutzgeistes. Die Tiermutter ist die Verkörperung der schamanischen Kraft. In dieser totemistischen Verbindung von Tier und Mensch als Einheit ist der Quell der schamanischen Kraft. Menschliche und tierische Lebewesen bilden eine Sippe, sind miteinander verwandt, können sich ineinander verwandeln (14). Hilfsgeister, auch vielfach in Tiergestalt, können je nach Bedarf vom Schamanen und seinem Schutzgeist zugezogen werden. Sie können als Sendboten und als Kampfgefährten wirken.

Rituale

In der schamanischen Séance wird durch Wort, Gesang, Tanz jeweils neu improvisiert und inszeniert, was für Erfahrungen die Reise des Schamanen in die Anderwelt bringt. Der Tanz der Schamanen enthält zwei Elemente. Zum einen wird in der rhythmischen und exzitatorisch sich steigernden Bewegung die Selbstinduktion der Ekstase vorbereitet, gleichzeitig enthält der Tanz in pantomimischer Darstellung imitative Elemente, z. B. des Vogelfluges, Rittes, Kampfes. In der dramatischen Darstellung inszeniert der Schamane die Reise, er zeigt die Räume, durch die die Reise führt, die Gefahren, die Kämpfe, die zu bestehen sind, schließlich das Ziel der Reise, das Finden, Gewinnen, Mitnehmen, das Zurückbringen der verlorenen Seele, die Vertreibung übelwollender Geister, die Befriedung, Versöhnung, Restitution. 

Ausrüstung des Schamanen

Der Schamane hat meistens eine besondere Ausrüstung. Das wichtigste davon sind seine Kleidung und seine Trommel (oder ein anderes Instrument zur Erzeugung rhythmischer Geräusche, z. B. eine Rassel). Die Tracht stimmt zwar im Allgemeinen in der Grundstruktur mit der lokalen Kleidung überein, kann bei manchen asiatischen und nordamerikanischen Völkern aber auch transvestitische Elemente aufweisen. Die Kleidungsstücke müssen aus dem Fell oder Leder besonderer Tiere und mit besonderen Instrumenten hergestellt werden. Zum Teil werden auch mehrere Kleidungsstücke, je nach Oberwelt- und Unterweltfahrt benötigt. Die Kleidung kann mit Farben geometrisch, mit Figuren von Tieren, Sonne, Mond, Sternen bemalt sein. Sie kann behangen sein mit Glocken, Schellen, Fransen, Metallstücken, mit Ketten, Masken (Darstellung des Schutzgeistes). An Handschuhen und Stiefeln lässt die Bemalung ihre Symbolik als Tierbeine erkennen (15). Auf dem Kopf trägt der Schamane eine besondere Kappe, einen Helm, ein geweihartiges Metallgebilde, Federn. Die Kleidung des Schamanen repräsentiert semantisch die Verbindung des Schamanen mit der Geisterwelt. Zahlreich sind die Instrumente, die der Schamane für seine Tätigkeit braucht: Schale, Seil, Teile von Tieren, Kerzen und Musikinstrumente (Trommel, Rassel, Saiteninstrumente, Glocke, Schelle). Manchmal hat er auch noch Werkzeug für Tieropfer zur Hand. Das bedeutendste Instrument des Schamanen ist seine Trommel. Sie ist das Medium seiner Reise. Sie wird zum Reittier, zum Pferd, Vogel, Rentier. Die Trommel ist Repräsentant des Schutzgeistes und materialisierter Träger der schamanischen Macht. Die Herstellung und Belebung der Trommel ist ein bedeutender Abschnitt im Werdegang des Schamanen. Das Suchen des geeigneten Baumes (oft Birke oder Lärche), das Gewinnen des Holzes, ohne den Baum dabei abzutöten, das Zurichten der Trommelform (rund, eiförmig, oval), das Bespannen mit dem Fell eines bestimmten Tieres sind aufwendige heilige Akte. In der Weihe der Trommel gewinnt diese ihre machtvolle Seele, ihr eigentliches unfassbares Wesen (16). Zum Flug in die Anderwelt gehört die räumliche Erhöhung: ein Pfahl, ein Baum, eine Leiter, eine Plattform können dazu dienlich sein.

Kosmologie, Ethik, Anthropologie

Der Kosmos ist im Ideogramm der Menschen dieser Kultur dreigeteilt: Erdenwelt, Überwelt und Unterwelt. Der Baum, der Pfahl, auch der Fluss verbindet als 'axis mundi' die drei Welten. Der sichtbaren Diesseitswelt ist eine energetisch-animistische transintelligible Welt zugehörig. Der Schamane kann sie sehen und beeinflussen. Der Mensch ist dem Ganzen verbunden, ist systematisch eingebunden in das Ganze des Kosmos. Diese Einbindung bedeutet Eingeordnetsein und Aufgehobensein genauso wie Verpflichtung oder Rücksichtnahme auf die Geisterwelt. Es ist eine ökologisch-systemische Ethik. Der Mensch hat darauf zu achten, die Geister, die Herren der Tiere und Pflanzen, des Flusses, des Sees, der Berge, des Wetters nicht zu kränken. So hat er z. B. auf der Jagd oder auf dem Fischfang im Beutegewinn Maß zu halten und hat dem Herrn der betreffenden Tierart Opfer darzubringen. Die Knochen des erlegten oder des geopferten Tieres sind sorgsam aufzubewahren. Aus ihnen konstituiert sich neu das Leben. Die Knochen repräsentieren die Kontinuität der Sippe des Lebendigen. Im Gegensatz zur kultischen Religiosität mit ihrer Trennung von Natur und Numen, mit ihrer Vorstellung von einer organischen chronologischen Kontinuität des Lebens, von der Urzeit der Schöpfung über die Gegenwart zur Zukunft, gibt es auf dieser Stufe der magischen Religiosität keine Trennung von Natur-, Mensch- und Geisterwelt. Das Numinose ist in der ubiquitären Hierophanie allgegenwärtig. Es gibt hier nicht das Bild vom unwiderruflichen linearen Zeitablauf des Weltgeschehens. Leben und Wiedergeborenwerden, Auferstehung, Zerstückelung und Wiederherstellung, Krankheit und Gesundheit stehen in einem anderen, zyklisch-uroborischen Zusammenhang als in der Sicht der rationalistisch-aufgeklärten Kultur, in der das Weltbild des Alltagsbewusstseins dominiert.

Der Körper des Menschen, sein Skelett, enthält die Elemente der Welt, geschwisterlich allem Lebendigen verbunden und auch in alles verwandelbar. Seine 'vis vitalis', das was ihn lebendig macht, ist seine Körperseele. Neben der Körperseele gibt es noch mehrere andere Seelen. Diese können den Leib verlassen, ohne dass dieser deshalb absterben muss. Diese "Freiseele" verlässt den Leib des Schamanen in der Ekstase. Sie ist es, die auf Reisen geht. Die Freiseele des Schamanen kann sich verwandeln in andere Wesen, meist Tiere. Bei manchen sibirischen Schamanen beginnt die Lehrzeit schon vorgeburtlich. Der noch nicht geborene Schamane sieht vom Baum oder Berg aus die Krankheitsgeister und ihre Wege. Er wird von den schamanischen Vorfahren zerstückelt, sein Fleisch (der weibliche Anteil) und seine Knochen (der männliche Anteil und der Garant der Sippenkontinuität) werden an die Krankheitsgeister verteilt. Der zukünftige Schamane kann nur die Krankheiten heilen, deren Geister von seinem zerstückelten Körper gegessen haben. Die Skelettierung setzt die Seele frei, in andere Welten zu gehen. Die Knochen werden dann wieder zusammengesetzt und mit Fleisch von Verwandten belebt. Das garantiert die Kontinuität des schamanischen Wissens um die Macht in der Sippe (17).

Soziale Position

Der Schamane wird aufgrund seiner Macht gebraucht, verehrt, aber auch mit Scheu betrachtet. Er ist eine ambivalente Gestalt, unentbehrlich und zugleich gefürchtet. Durch seine paranormalen Fähigkeiten ist er eine marginale Gestalt, anders als die weltliche Zentralfigur des Stammeshäuptlings und anders als in den Hochreligionen der Priester als religiöser Funktionsträger.

Typen von Schamanen

Die Ethnologie hat zahlreiche lokale Variationen des Schamanen aufgezeigt (18). Es gibt spontanes und intendiertes, sporadisches und familiäres Schamanentum. Es gibt große, mächtige und kleine, wenig befähigte Schamanen. Es gibt weiße Schamanen von hohem karitativem Ethos und schwarze Schamanen, die Böses wirken. Männer und Frauen können Schamanen werden. Bei beiden ist Transvestismus und partieller Transsexualismus bekannt, teils nur während des Schamanisierens, teils als dauerndes Verhalten (auch Ehe mit Menschen gleichen biologischen Geschlechts) (19).

Respekt vor dem echten Schamanen

In der heutigen Welt sind an manchen Orten noch Reste einstigen Schamanentums nachweisbar. Schamanismus ist ein Komplex bestimmter konstitutiver Elemente, ein Syndrom, dessen Komponenten in verschiedenem kulturellen und religiösen Kontext auftauchen können (20). Die Achtung vor dem Funktionsträger Schamane, welcher sogar in der heutigen, globalisierten, multikulturellen, kreolisierten Welt noch überlebt und nach den Bedürfnissen seiner Sozietät wirkt (21), sollte uns bewahren vor den Verführungen der Verfälschung und des Missbrauchs. Die Idealisierung des Schamanen (oft die Vorstufe zur plakativ-werbeträchtigen Selbstattribution durch postmoderne und New-Age-Heiler oder zum touristischen Werbegebrauch) ist ebenso verfehlt wie die Entwertung als primitiv, archaisch oder gar die Pathologisierung des Schamanentums, besonders des Weges zum Schamanen.

 

  • Literaturverzeichnis

    1) Findeisen, H. & Gehrts, H.: Die Schamanen. 2. Aufl. Köln 1983, S. 13.
    2) Lewis, I. M.: What is a Shaman? In: Hoppál, M.(Ed.). Shamanism in Eurasia. Göttingen 1984, S. 5.
    3) Eliade, M.: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt/M. 1975, S. 14.
    4) Lommel, A.: Schamanen und Medizinmänner. München 1965.
    5) Califano, M.: El chamanismo mataco. In: Scripta Ethnologica 3 (1975): 7-60.
    6) Larraya, F. P.: Lo irracionál en la cultura. Buenos Aires 1982, Vol. II, p. 312.
    7) Baer, G.. Ein besonderes Merkmal des südamerikanischen Schamanen. In: Zeitschrift für Ethnologie 94 (1969): 284-292.
    8) Ackerknecht, E.. Psychopathology, Primitive Medicine and Primitive culture. In: Bulletin of the History of Medicine 14 (1943): 30-67.
    9) Eliade, M.: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt/M. 1975, S. 519.
    10) Hultkrantz, A.: Ecological and Phenomenological Aspects of Shamanism. In: Diószegi, V./ Hoppál, M. (eds.): Shamanism in Siberia. Budapest 1978, 27-58.
    11) Lewis, I. M.: Ecstatic Religion. Harmondsworth 1971, p. 18.
    12) Dittrich, A. & Scharfetter, C. (Hrsg.): Ethnopsychotherapie. Stuttgart 1987; Price-Williams, D.: Shamanism and altered states of consciousness. In: Anthropology of Consciousness 5 (1994): 1-15.
    13) Hultkrantz, A.: Ecological and Phenomenological Aspects of Shamanism. In: Diószegi, V./ Hoppál, M. (eds.): Shamanism in Siberia. Budapest 1978, 27-58.
    14) Friedrich, A. & Buddruss, G.: Schamanengeschichten aus Sibirien. 2. Aufl. Berlin 1987, S. 45-78.
    15) Graceva, G. N.: A Nganasan Shaman Costume. In: Diószegi, V. & Hoppál, M. (eds.). Shamanism in Siberia. Budapest 1978, S. 315.
    16) Friedrich, A. & Buddruss, G.: Schamanengeschichten aus Sibirien. 2. Aufl. Berlin 1987, S. 71-88.
    17) Friedrich, A. & Buddruss, G.: Schamanengeschichten aus Sibirien. 2. Aufl. Berlin 1987, S. 27-30.
    18) Hultkrantz, A.: Ecological and Phenomenological Aspects of Shamanism. In: Diószegi, V./ Hoppál, M. (eds.): Shamanism in Siberia. Budapest 1978, p. 54.
    19) Findeisen, H. & Gehrts, H.: Die Schamanen. 2. Aufl. Köln 1983, S. 140; Eliade, M.: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt/M. 1975, S. 248; Nioradze, G.: Der Schamanismus bei den sibirischen Völkern. Stuttgart 1925, S. 58.
    20) Eliade, M.: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Frankfurt/M. 1975, S. 360; Halifax, J.: Die andere Wirklichkeit der Schamanen. Bern 1981; Halifax, J.: Schamanen. Frankfurt/M. 1983; Lommel, A.: Schamanen und Medizinmänner. München 1965; Nicholson, S. (ed.): Shamanism. Wheaton, ILL. 1987.
    21) Nicholson, S. (ed.): Shamanism. Wheaton, ILL 1987.