Mystische Erfahrungen bei schwerer Krankheit

Von Dr. Elisabeth Petrow und Prof. Dr. Torsten Passie

 

Mystische Erfahrungen können im Zusammenhang mit Krankheit in unterschiedlichen Kontexten und Ursachengefügen auftreten: spontan in Momenten größter Not, intendiert im Rahmen eines spirituellen Copings oder auch psychopathologisch als mystikoformes psychotisches Erleben, um nur einige zu nennen. Das nachfolgende Gespräch vermittelt lediglich Hinweise auf einzelne Aspekte. Bei diesen geht es hauptsächlich um das Erleben spontan auftretender mystischer Erfahrungen bei (schwerer) Krankheit und ihre möglichen Auswirkungen auf die Coping und Heilungsprozesse.

Wenn ein schwerkranker Mensch eine mystische Erfahrung macht, kann es zu verschiedenen Reaktionen darauf kommen: Er kann sie ignorieren, vielleicht aus Angst vor Stigmatisierung, vor einer „weiteren Diagnose“, vielleicht auch aus Angst vor der erahnten umgestaltenden Kraft dieser Erfahrung. Er kann mit Verzweiflung reagieren, weil die in der mystischen Erfahrung erlebte Glückseligkeit in so scharfem Kontrast zu dem Leiden an der Krankheit steht, dass dies kaum ausgehalten werden kann, und sich so eine vielleicht schon bestehende Depression weiter verstärkt. Oder er stellt sich bewusst der Aufgabe, diese Erfahrung in sein Leben zu integrieren, das zu diesem Zeitpunkt von einer Krankheit dominiert wird. Die in der mystischen Erfahrung erlebte umfassende Geborgenheit kann zum tragenden Grund für eine aktive Auseinandersetzung mit dem krankheitsbedingten Leiden oder der Endlichkeit des Lebens werden, so dass sie eine Akzeptanz der Krankheit erleichtert oder vielleicht überhaupt erst ermöglicht.

Den Hintergrund des folgenden Gesprächs bilden die mystischen Erfahrungen der Autorin (EP), die in unterschiedlicher Qualität und Intensität während der schmerzhaften Auseinandersetzung mit den Folgen einer schwerwiegenden Erkrankung unerwartet aufgetreten sind und den Verarbeitungs- und Heilungsprozess auf maßgebliche Weise mitgeprägt haben.

 

Mystische Erfahrungen bei schwerer Krankheit: Ein Gespräch

TP: Es soll in unserem Gespräch um spirituelle oder mystische Erfahrungen gehen, die in Krankheits­- und Heilungsprozessen gemacht werden und diese beeinflussen. Zunächst würde ich gern hören, wie Ihr Zugang zu diesem Thema ist. Was Sie zum Beispiel da an eigenen Erfahrungen einbringen und wie sich dieser gesamte Zusammenhang für Sie darstellt.   

EP: Vielleicht erst mal etwas zu meinem Zugang zu diesem Thema. Bevor ich krank wurde, hatte ich gar keinen Zugang dazu. Ich habe später, als ich krank war oder auch in der Phase der Krankheitsverarbeitung, nicht nach Büchern zu diesem Thema gesucht. Es war eher andersherum und zwar so, dass ich zuerst eine spirituelle Erfahrung gemacht habe und danach angefangen habe zu lesen, weil ich die überhaupt nicht einordnen konnte. Ich wusste zunächst gar nicht, was da eigentlich mit mir passiert war. Und weil ich eine Erkrankung am Kopf hatte, hatte ich zunächst die große Sorge, dass ich irgendwie anfange zu „spinnen“ oder zu halluzinieren und die Enzephalitis vielleicht Folgen hat, die in eine psychiatrische Richtung gehen. Insgesamt habe ich qualitativ recht unterschiedliche Erfahrungen gemacht, die mich jede auf ihre Weise berührt, verändert und gewandelt haben.

Die erste dieser Erfahrungen machte ich zwei oder drei Jahre nach der akuten Erkrankung. Damals saß ich alleine in einem Raum der Stille in der Krypta eines Doms und habe mir den Raum angeschaut. Ich hatte eine Bibel in die Hand genommen und dachte, vielleicht finde ich darin ja irgendwas zum Umgang mit Krankheit. Damals beschäftigte ich mich mit der Frage, inwieweit man das Thema von Ostern „Leiden, Sterben, Auferstehen“ bei der Krankheitsbewältigung nutzen und es so ganz unmittelbar ins eigene Leben hineinholen könnte. Gerade den Gedanken einer möglichen Auferstehung nach großem Leid fand ich im Zusammenhang mit der Krankheitsbewältigung spannend und möglicherweise lohnenswert. Ich habe dann in der Bibel geblättert, doch hatte ich das Gefühl, das ist es nicht, das spricht mich nicht an. Daraufhin habe ich mir einfach den Raum angeschaut. Der Raum war schön, aber das Licht darin war nicht schön, es war kalt und ein bisschen neonartig. So saß ich da und dachte über die Gestaltung des Raumes nach.

Plötzlich hat sich das Licht verändert; es war, als ob plötzlich wie ein überirdisches Licht aufgetaucht wäre, und das schien von vorne rechts zu kommen. Dieses Licht wurde immer größer und hat sich ausgebreitet und den ganzen Raum und auch mich ganz ausgefüllt. Ich bin wie in diesem Licht aufgegangen. Als das Licht sich dann wieder zurückgezogen hat, habe ich gemerkt, dass es in mir geblieben ist und zwar im Bereich des Herzens. Wie eine Art inneres Leuchten, das mit einer tiefen, umfassenden und doch stillen Freude und dem Gefühl von tiefem Frieden verbunden war. Als sich das Licht wieder zurückgezogen hatte, bin ich noch eine Weile sitzengeblieben; ich musste das erst mal fassen. Gleichzeitig war dieses Erlebnis aber auch aus sich selbst heraus so klar, so wahrhaftig irgendwie, dass ich zunächst gar kein Bedürfnis nach irgendwelchen Erklärungen hatte. Später war ich mit einer Freundin am Ausgang des Doms verabredet. Diese Freundin schaute mich nur an und fragte: „Was ist denn mit dir geschehen? Du hast so viel Licht um dich herum, das gibt es ja gar nicht.“ Das war die erste Erfahrung, die ich gemacht habe. Ich wusste bis zu diesem Zeitpunkt gar nicht, dass es solche Erfahrungen überhaupt gibt.

TP: Das macht tatsächlich einen erheblichen Unterschied, ob man so etwas erstrebt oder ob es einem zufällig widerfährt als etwas, das man gar nicht gesucht hat. Das ist ähnlich wie bei einer Krankheit, die man ja auch nicht gesucht hat, die einen aber trotzdem ereilt.

EP: Es ist beides schwierig. Ich stelle es mir sogar noch schwieriger vor, wenn man danach sucht, wenn man meditiert, um so eine Art Erfahrung zu machen. Ich glaube, dass das nicht funktioniert, weil mystische Erfahrung und Absicht nicht zusammengehen, sondern sich vielleicht sogar widersprechen.

Mystische Erfahrungen sind nicht verfügbar oder sicher generierbar. Ich vermute sogar, dass die Leute, die sich zum Meditieren hinsetzen, um so eine Erfahrung zu machen, genau deswegen diese Erfahrung nicht machen. Wenn man das beabsichtigt oder anstrebt, wäre man zwar vielleicht darauf besser vorbereitet und könnte es vielleicht besser einordnen. Wenn es einen unvorbereitet erwischt, hat man natürlich erst mal Fragen, vor allem: Was war das und mit wem kann ich darüber sprechen? Es ist, wenn überhaupt, nur schwer in Worte zu fassen. Und selbst wenn man Worte für sich gefunden hat, heißt das noch lange nicht, dass man einen anderen Menschen findet, der mit dieser Erfahrung was anfangen kann und sie nicht als Einbildung einfach abqualifiziert. Denn genau das war es nicht. Das war eine echte Erfahrung, so wie man zum Beispiel in die Natur geht und dort einen schönen Sonnenaufgang erlebt. Das ist ein Erlebnis, das man hat.

Die mystische Erfahrung ist auch ein Erlebnis, allerdings ein inneres. Da muss nach außen gar nichts weiter passieren. Da kann man ganz still dasitzen. Genauso gut kann man sich stärker äußern, vielleicht, indem man anfängt zu weinen oder sich zu bewegen als eine Art Tanz oder so. In erster Linie ist es aber eine innere Erfahrung. Trotzdem nicht weniger eine Erfahrung als irgendeine im Außen gemachte.

TP: Vielleicht können Sie noch etwas dazu sagen, was für eine emotionale Qualität das gehabt hat? War das eine positive Stimmungsqualität? Sie haben über dieses Lichtphänomen berichtet, welches eine Art Ergriffenheit erzeugt hat.

EP: Ja, bei dieser Erfahrung war es in erster Linie eine Ergriffenheit von dem Lichtphänomen. Die Erfahrung, dass man von einem als überirdisch empfundenen Licht ausgefüllt sein kann, war für mich eine unfassbare Sache. Tiefe stille Freude habe ich gespürt und einen großen umfassenden Frieden empfunden. Ich habe später noch eine andere Erfahrung gemacht, die auf der emotionalen Ebene wesentlich stärker wirksam gewesen ist. Bei der gab es keine Lichtphänomene.

Ich kam damals gerade vom Arzt. Er hatte mir eröffnet, dass der Verdacht auf eine weitere schwere Erkrankung bestehe und ich operiert werden müsse. Darauf war ich überhaupt nicht vorbereitet und ziemlich schockiert. Gerade weil ich nicht damit gerechnet hatte, war ich alleine beim Arzt, also ohne Begleitung, und als ich dort weggegangen bin, war ich voller Panik, ob ich diese OP überleben würde und wieso ich denn schon wieder eine schwere Erkrankung habe und wie das alles gehen soll. Ich war außer mir vor Angst. Ich bin dann in eine Buchhandlung gegangen, weil ich dachte, vielleicht kann ich mich da ein wenig ablenken und etwas Ruhe finden. Aber ich bin nur zwischen den Regalen umhergeirrt, weil die Angst viel zu groß war, als dass ich mich auf irgendwas hätte konzentrieren können. Und dann war es ganz plötzlich, als ob ein warmer, bergender Kraftstrom von hinten durch die Schulterblätter in mich einströmt und sich in mir ausbreitet. Ich wusste in diesem Moment mit unmittelbarer Gewissheit, „dass Gott mich gefunden“ hat. Obwohl ich nicht religiös war, war das absolut gewiss. Dieser warme Kraftstrom hat sich in mir ausgebreitet und die Angst war vollkommen verschwunden. So absurd es klingt, in mir war statt der Angst plötzlich eine tiefe Freude. Ich hatte das Gefühl, ich bin geborgen, ich bin so geborgen, wie ich noch nie in meinem Leben geborgen war. Und ich hatte das Gefühl, dass ich mich sogar körperlich hätte nach hinten fallen lassen können, weil ich selbst dann aufgefangen werden würde. Es war so ein tiefes Vertrauen da, eine unglaubliche Gewissheit, in einer unfassbar großen Liebe aufgehoben und geborgen zu sein. In diesem Moment hatte ich das sichere Gefühl, dass alles gut werden würde. Egal, wie die Operation ausgeht, es wird gut werden.

TP: Es war also zunächst eine Art völliger Unsicherheit, Angst und Ungewissheit. Diese hat sich dann genau ins Gegenteil gewandelt, in eine tief erfahrene Gewissheit, dass das gut gehen wird und in Ordnung ist; selbst wenn es von einem normalmenschlichen Standpunkt solche Bedrückung enthält, solche Angst und Unsicherheit verursachen muss.

EP: Für mich war es damals – und ist es eigentlich bis heute geblieben – unbegreiflich, was da passiert ist. Ich kann ja nur beschreiben, wie ich es empfunden habe. Dass einem in so einer Situation so etwas zukommen kann, solch ein umfassendes Geborgensein, was mir Menschen in meiner Umgebung – also zum Beispiel, wenn mein Freund mich in den Arm genommen hätte – niemals hätten vermitteln können, wie es dieses Erlebnis vermocht hat. Diese Geborgenheit, Festigkeit, Ruhe ... da gab es keine Zweifel mehr. Es war plötzlich alles ruhig, hell und klar. Diese klare Gewissheit, die man in einem solchen Moment hat, ist eine alles übersteigende Gewissheit. Man spürt nicht nur, dass man geborgen ist oder geliebt wird, sondern empfindet in einer zutiefst ergreifenden Weise: Es ist so. Diese Gewissheit hat mir sehr viel Halt gegeben, die hat mich sehr lange getragen. Bei mir war die drohende OP im Vordergrund, aber ich war insgesamt in einem sehr schweren Krankheitsverarbeitungsprozess. Auch für Letzteres hat mir diese Erfahrung sehr viel Kraft gegeben, sehr viel Ruhe auch. Diese hätte ich sonst nicht bekommen. Woher auch? Ja, es war eigentlich die wichtigste Erfahrung, die ich bis jetzt gemacht habe, und die tiefste.

TP: Die war ja in diesem Krankheitsverarbeitungsprozess vielleicht sogar lebensrettend? Wer weiß, in welche Verzweiflungs­-, Unsicherheits­- und Angstzustände Sie gekommen wären, ohne so eine Erfahrung zu haben, ohne so eine Art Gegenbild erlebt und für sich gewiss zu haben.

EP: Das stimmt. Wenn in den schweren Phasen, die ich auch danach noch durchzustehen hatte, die Verzweiflung übermächtig geworden ist, oder wieder Phasen von schlechter Stimmung, von Hoffnungslosigkeit, von Ausweglosigkeit, von dieser „dunklen Nacht der Seele“ aufgetreten sind, konnte ich auf die Erfahrung zurückgreifen. Das Geborgensein hat mir in diesen Zeiten ermöglicht, meine Würde zu wahren und zwar in dem Sinne, dass ich wusste, ich bin angesehen vor aller Leistung, ich werde gehalten. Ich wusste, das ist jetzt eine schwere Phase, aber du kommst da durch, egal, wie sehr du jetzt leidest. Es war kein Negieren der Schwere der Situation, kein Abwehren wie etwa „Ich bin ja geborgen und so schlimm ist das alles nicht“. Vielmehr war mir sehr bewusst, wie schlimm das alles ist; ich habe den Schmerz sehr intensiv gespürt. Doch zugleich war die Gewissheit da, dass ich durch diese Phasen durchkomme, weil ich geborgen bin, weil ich – auch deshalb – die Kraft dazu habe. Dazu muss ich sagen, dass mir in dieser Zeit ein Spruch aus der Bibel geholfen hat. Da heißt es ungefähr, dass Gott uns nur so viel zu tragen gibt, wie wir aushalten können. Wenn ich dann mal verzweifelt war, habe ich oft an diese Erfahrung gedacht und das Vertrauen gehabt, dass mir von woher auch immer Kraft zukommen wird, dies zu bewältigen. Das Vertrauen in diese Kraft hat mich getragen, es resultierte aus dieser mystischen Erfahrung.

TP: Es ist ja so, dass in einem schwerwiegenden Krankheitsverarbeitungsprozess, wo durch eine Erkrankung auch mit bleibenden Beeinträchtigungen zu rechnen ist, sehr viel Unge­wissheit vorhanden ist. Ich kann mir vorstellen, dass man da durch die Angst in eine innere Isolation geht in dem Sinne, dass man den Gesamtprozess zugunsten momentaner Befindlich­keiten aus dem Auge verliert. Sich in einem solchen Zustand hoffnungsvoll auf die Zukunft zu beziehen ist ja kaum möglich. Auch die Vergangenheit verblasst. Man kann zwar sagen: Okay, da habe ich früher mal eine gute Erfahrung gemacht. Nur, was nützt mir das jetzt? Es wird eine zunehmende zeitliche Isolierung, eine Bezogenheit auf die momentane Situation eintreten. Man ist nicht mehr so ausgedehnt in Vergangenheit und Zukunft. Man ist nicht mehr verankert im Hoffen auf die Zukunft oder im Gutem der Vergangenheit, so dass man sich dadurch getragen fühlen könnte. Man ist damit in der Wahrnehmung irgendwie auch „zeitlich eingeschränkt“. Das isoliert einen zusätzlich von anderen Menschen, weil man in einem besonderen Prozess ist, der ein Stück weit abseitig ist im Verhältnis zu den anderen. Ich habe den Eindruck, dass diese Erfahrung des Geborgenseins für Sie den Hoffnungshorizont wieder aufgetan hat. Es blieb nicht nur bei der Annahme „Es ist immer gut gewesen, auch wenn vielleicht viel Schwieriges dabei war, und es wird wieder gut werden“, auf die man vielleicht zurückgreifen kann, wenn man sich den Fuß verstaucht hat: Ich war vorher intakt, ich werde danach wieder intakt sein. Das Ganze dauert drei Wochen. Der Arzt sagt, es kann auch sechs dauern. Gut, das ist nervig und behindert mich vielleicht, aber es ist dann wieder weg. Da ist eine Gewissheit und ein Zukunftsbezug drin. Der war in Ihrem Prozess, vermute ich, zeitweise verschwunden. Ihre Erfahrung scheint mir dahingehend relevant gewesen zu sein, dass sich der zeitliche Horizont und der Zukunftsbezug richtig weit aufgetan haben. Aus einer Kontraktion des Zeiterlebens in eine Ausdehnung, mindestens für diesen Moment. Das ist natürlich nur eine Komponente der Erfahrung.

EP: Ich weiß gar nicht, ob ich das tatsächlich so beschreiben würde, weil die Erfahrung bei mir trotz allem nicht das Gefühl ausgelöst hat, ich werde in jedem Fall wieder gesund. Auch die Angst vor bleibenden Behinderungen hat sich dadurch nicht aufgelöst. Ich würde eher sagen, nicht das Öffnen in Richtung Vergangenheit oder Zukunft war wieder da, sondern ich hatte das Gefühl, dass mir diese Erfahrung einen inneren Raum eröffnet oder eine Art innere Kraftquelle erschlossen hat, so dass ich die Gewissheit hatte und heute noch habe: Egal, was passiert, ich komme da durch, ich kann dem begegnen. Dieses Vertrauen ist dauerhaft geblieben. Was nicht heißt, dass ich plötzlich überzeugt war, gesundheitlich wieder so fit wie vorher zu werden. Es war eher das Gefühl, ich bin so umfassend geborgen in diesem Transzendenten, dass ich die Kraft haben werde, dem Krankheitsprozess zu begegnen; selbst wenn ich immer mal wieder in die Knie gehe, weil ich das Gefühl habe, ich breche unter der Last zusammen. In solchen Momenten kann ich jetzt sagen: Gut, dann gehe ich halt in die Knie und bleibe vielleicht mal eine Zeitlang am Boden. Aber ich weiß, dass ich wieder aufstehen kann. Das ist für mich die wichtigste Erfahrung, das bedeutendste Erfahrungswissen daraus.

TP: Das geht quasi noch über die Frage hinaus, wie weit ich mich noch wieder restituieren werde.

EP: Die „vollständige Restitution“ anhand medizinischer oder psychologischer Kriterien wird nebensächlicher, weil es offenbar ein Heilsein auf anderen Ebenen gibt, die von der Schulmedizin nicht berührt werden. Die Erfahrung hat mir unmittelbar erfahrbar gemacht, dass wir alle in uns einen Kern haben, der von Krankheit, Behinderung oder Leid nicht affizierbar ist. Es ist vielleicht so etwas wie ein „Gottesfunken“. Später habe ich angefangen, zu diesen Erfahrungen nachzulesen. Da bin ich auf Augustinus’ Bekenntnisse gestoßen, in denen er sagt: „Aber du, Gott, warst innerer als mein Innerstes.“ So ungefähr fühlte es sich an. Und ebenso, dass diese Erfahrung die Angst und alles, was eingekapselt war, gesprengt hat und in einem sehr weiten Sinne dieses jedem im Innersten einwohnende „Licht“ aufgebrochen ist. Es war für mich eine wesentliche Erkenntnis, dass man zu diesem inneren Kern einen Zugang haben oder bewusst darauf zugreifen kann.

TP: Das würde sich nicht widersprechen mit der zeitlichen Isolation, aber ist noch um­fassender. Es sichert auch nicht nur den Krankheitsverarbeitungsprozess, sondern ist eine Erfahrung, die noch darüber hinausgeht und – wie man spüren konnte – Sie auch heute noch sehr berührt. Sie scheint bei Ihnen innerlich präsent geblieben zu sein, obwohl sie nur einen relativ kurzen Moment ausgemacht hat. Das ist vielleicht dieser Punkt, der eine ge­wöhnliche Erfahrung von Hoffnung im Sinne von „Na ja, das wird schon wieder“ von einer mystischen Erfahrung unterscheidet. Die mystische Erfahrung hat einen außergewöhnlich ergreifenden Charakter, ein tiefgreifendes Gewissheitsbewusstsein und dadurch eine nach­haltigere Auswirkung.

EP: Ich muss sagen, dass mich diese Erfahrung nicht nur zutiefst berührt, sondern sogar erschüttert hat. Das meiste, das man erlebt, kann man erklären und emotional in sein Weltbild einordnen. Diese Erfahrung war jedoch so fundamental anders, dass sie sich dem entzieht. Natürlich kann ich sie als Erfahrung hinterfragen. Doch das, was dabei passierte, war so evident und gewiss, dass es für mich nichts zu hinterfragen gab. Genau dies war allerdings etwas, was mich zunächst sehr irritiert hat, weil ich als Mensch mit einem wissenschaftlichen Hintergrund plötzlich vor einer Erfahrung stand, bei der ich unmittelbar wusste, dass es keine Fragen zu stellen gibt. Das war wirklich so. Es war ein sicheres Gefühl von Wahrheit; jene unmittelbare Gewissheit, die „wirkliche“ Wirklichkeit erfahren zu haben. Es war eine Erfahrung, wo alles klar ist, weil man es erkennt und sieht und erfährt. Da gab es keine Fragen mehr. Im Rückblick würde ich sagen, dass die Beschreibung „Gott hat mich gefunden“ – auch wenn ich es heute genau so wieder formulieren würde – vielleicht einfach ein Zurückgreifen auf Metaphern jenes Kulturkreises war, der mir am vertrautesten ist. Vielleicht, weil es eine Erfahrung war, für die es keine Worte gibt, die unbeschreibbar bleibt und die (damals) nur in Bezug auf Gott als etwas – mir kulturell vertrautes – alles Übersteigendes gedeutet werden konnte.

TP: Wir haben über die beiden Erfahrungen gesprochen, die sich während des Krankheits­- bezie­hungsweise während des Verarbeitungsprozesses der Erkrankung ereignet haben. Sie hatten mir im Vorgespräch berichtet, dass es noch eine weitere Erfahrung gab, die Ihnen nach der Erkrankung widerfahren ist. Vielleicht können wir versuchen, uns dieser anzunähern.

EP: Ja, es gab noch eine weitere Erfahrung, die qualitativ wieder anders war. Es war ungefähr fünf oder sechs Jahre nach der akuten Erkrankung. Da bin ich mit einem Freund auf einen Berg gefahren und wir wollten wieder runtergehen. Der Freund ist ein Stück vor mir gelaufen. Ich hatte plötzlich das Gefühl, dass der Berg gegenüber mich „anfunkt“. Ich habe eine Weile versucht, es zu ignorieren, aber das ließ sich nicht ignorieren. Es war ein ganz eigenartiges Gefühl und ich wusste: Ich muss mir dafür Zeit nehmen. Es war irgendwie klar, irgendwas war, auch wenn ich das nicht in Worten fassen konnte. Ich habe mich dort auf einen Stein gesetzt und einfach nur auf den gegenüberliegenden Berg geschaut. Plötzlich schien es, als ob sich die Welt verändert hat. Sie hatte ihre Tiefendimension verloren, war wie zweidimensional geworden, also wie ein Bild oder wie ineinanderschiebbare Kulissen beim Theater. Dann ist plötzlich von allen Bergspitzen ein unglaubliches Licht ausgegangen. Es war wie ein überirdisches Licht. Dieses Licht hat dann alles ausgefüllt, bis einen Moment lang nur noch Licht war. Als das Licht wieder weg war, war die Welt wieder normal, aber „ich“ war nicht mehr da, weil ich mich „aufgelöst“ hatte. Diese Erfahrung ist kaum beschreibbar, weil eine Beschreibung voraussetzt, dass ein abgrenzbarer Erlebender etwas erfährt. Doch in dem Moment war niemand mehr da, der etwas erfahren konnte; „ich“ war nur noch wie so ein letzter Bewusstseinspunkt in Bezug auf meine Individualität. Deshalb kann ich das nur annähernd beschreiben. Es war ein Zustand von absoluter Klarheit, von absoluter Bewusstheit. Dieses Bewusstsein hat alles umfasst: Ich war die Berge, die Wiesen, der Himmel, ich war alles gleichzeitig. Da war auch mein Körper, der durch dieses ausgedehnte Bewusstsein hindurch gelaufen ist, aber „ich“ war nicht mehr da. Das Ich war unendlich ausgedehnt, ohne Grenzen.

Es ist mir nach dieser Erfahrung sehr schwer gefallen, wieder zu kommunizieren. Es war ein Bewusstsein dafür da, dass mein Körper spricht, dass er isst, dass er sich bewegt, dass er irgendwas macht. Normalerweise haben wir das Gefühl, dass wir unseren Körper haben und in diesem Körper „haust“ unser Bewusstsein und damit agieren wir. Nach dieser Erfahrung war es irgendwie umgekehrt, weil das Bewusstsein unendlich weit war. In diesem ausgedehnten Bewusstsein gab es auch einen menschlichen Körper, aber dieses Bewusstsein war nicht darin lokalisiert, sondern der Körper war im Bewusstsein lokalisiert. Es umfasste, es enthielt alles. Es gab allerdings stets noch einen Bewusstseinspunkt, dem klar war, du musst wieder so was wie Ich-Strukturen aufbauen, damit du wieder an der Welt teilhaben kannst, damit du nicht wie ein Schlafwandler durch die Welt marschierst. Es war mir bewusst, dass man, um in der hiesigen Welt zu leben, bestimmte Ich-Strukturen benötigt. Ich habe mehrere Wochen gebraucht, begleitet von krassen körperlichen Symptomen wie starken Hitzegefühlen besonders in den Händen und in den Füßen, von Rücken- und Kopfschmerzen, von allem Möglichen, um mein Ich zu rekonstruieren. Gleichzeitig kam mir das völlig absurd vor. Es war so eine Klarheit in mir, dass alles Geist ist, dass mir das irgendwie auch so ein bisschen seltsam vorkam, diese Konstruktion von dem Ich. Obwohl mir klar war, dass man es braucht, aber gleichzeitig wirkte es fast komisch.

Das war keine Erfahrung, die etwas mit Glückseligkeit oder Geborgenheit zu tun hatte. Ich habe diese Erfahrung, dieses „Sichauflösen“ im All-Einen oder wie auch immer man das nennen möchte, wie ein „Erfahren des letzten Grundes“ empfunden: Dieser alles umfassende Geist ist das Eigentliche und unsere Körper und Ich-Strukturen sind dafür da, dass der Geist sich in verschiedenen Formen manifestieren und ausdrücken kann. Das war die eigentliche Erfahrung, dass der Geist uns als Individualitäten mit Ich-Strukturen braucht, um sich manifestieren zu können. Dass aber trotzdem dieser Geist da ist und alles, was an Manifestation da ist, vergänglich ist.

Die ersten beiden Erfahrungen haben für die Krankheitsverarbeitung insofern eine bedeutende Rolle gespielt, als dass sie mit der Gewissheit des Geborgenseins und einer tiefen Ruhe verbunden waren und mir offenbarten, dass man die Kraft für die Bewältigung hat oder doch haben kann. Trotzdem war es noch etwas Duales. Es gab mich mit den Ängsten und allem Möglichen und dann gab es diese Kraft oder das „Göttliche“, das mich getragen hat, das mir geholfen hat.

Bei der anderen Erfahrung, wo alles Geist oder Bewusstsein war, gab es zunächst das Problem, Worte oder Beschreibungen für sie zu finden. Ken Wilber hat mal aus dem buddhistischen Herz-Sutra zitiert: Form ist Leere und Leere ist Form. Das bringt meine Erfahrung noch am besten auf den Punkt. Ich – eigentlich muss ich dieses „Ich“ in Anführungszeichen setzen, weil es in der Erfahrung selbst kein Ich gab – habe diese Form, diese Ausfaltungen des Geistes wahrgenommen und gleichzeitig als leer empfunden, weil alles nur Geist oder Bewusstsein war. Es war leere Fülle oder volle Leere.

Wenn man diese Erfahrung im Zusammenhang mit der Krankheitsbewältigung betrachtet, so hat sie mir noch stärker als die zuvor beschriebene gezeigt, dass ich einen innersten, einen transzendenten Kern habe. Wenn ich die Erfahrung ernst nehme, dass alles nur Bewusstsein oder Geist ist oder sein könnte, dann relativiert sich natürlich auch die Perspektive auf eine Behinderung oder auf den Schmerz. Ich meine damit ausdrücklich keine Haltung wie: „Jetzt nimm das mal alles nicht so ernst, das ist doch sowieso nur ‚Geist‘.“ So würde es nicht stimmen. Denn das liefe meiner Ansicht nach auf eine unzulässige Bagatellisierung von Leiden hinaus. Aber die Erfahrung des Leidens gehört zum Menschsein dazu. Wenn man sich auf eine Ebene flüchtet, auf der man meint „es ist alles Geist“ und deswegen ist „alles nicht so schlimm“, geht das eher in Richtung einer Abspaltung von Gefühlen und Realitäten. Aber die Erfahrung dieses allumfassenden Geistes war insofern eine Hilfe, als dass sie mir eine andere Perspektive angeboten hat, unter der man sich das anschauen kann. Wenn man weiß, dass alles dieser umfassende Geist ist, weiß man auch, dass es Ebenen gibt, wo es keine Behinderungen mehr geben kann, wo man keine Einschränkungen erlebt. So eine Realität erfahren zu haben hat mir sehr geholfen.

TP: Die Bedeutung des Irdischen, der konkreten eigenen Belange, zum Beispiel körperlicher oder materieller Art, wird stark relativiert durch die übergeordnete Perspektive, die man in einen solchen Moment spürt oder innehat.

EP: Ja, es wird relativiert. Doch man muss aufpassen, dass die Relativierung nicht dahin geht, dass man die Gefühlsebene oder die kognitive Ebene bagatellisiert. Dass man eine Erfahrung von diesem umfassenden Geist nicht dafür verwendet zu sagen: Ach ja, es gibt ja diesen Geist als eigentlichen Grund und deshalb brauche ich mich nicht mehr mit meinen Gefühlen, mit meinen Problemen und persönlichen Mustern, mit irgendwelchen Alltagssorgen auseinanderzusetzen. Die Anfrage an einen selber nämlich – Wie geht man mit seinen Gefühlen, seinen Mustern um? – ist ja nicht weg, bloß weil man diese Erfahrung gemacht hat. Es kann sogar gefährlich sein, wenn man sich auf diese Erfahrung beruft und meint, es ist „eh alles egal hier“ oder „es ist alles in Ordnung“, weil es ja sowieso letztlich unwichtig zu sein scheint. Natürlich bleibt die tägliche Wirklichkeit erhalten, auch die Menschen und Probleme, die uns umgeben, und wir müssen hier unser alltägliches Leben gestalten und leben. Ich glaube, eine Verwechslung dieser unterschiedlichen Ebenen kann sich sehr ungünstig auswirken.

TP: Das könnte regelrecht Verwirrung erzeugen, wenn man diese übergeordnete oder allem zugrunde liegende Ebene erfahren hat und sich dadurch vielleicht als von persönlichen Proble­men befreit empfindet. Man hat eine total tiefgehende und gewissheitsvermittelnde Erfahrung und muss das nun in Beziehung bringen zu den eigenen Problemen, zu der persönlichen Weiterentwicklung und darf da nicht rausgehen.

EP: Es kann aber auch eine – bewusste oder unbewusste – Entscheidung dafür sein, diese Erfahrung als Entschuldigung oder Ausrede zu benutzen nach dem Motto: Hey, jetzt habe ich eine gute Begründung, warum ich mich mit diesen Themen nicht mehr auseinandersetzen muss.

TP: Das ist die Verwirrung, die ich meine. Das führt mich zur nächsten Frage. Wie kann eine mystische oder spirituelle Erfahrung zur Krankheitsverarbeitung beitragen?

EP: Ich persönlich würde spirituelle und mystische Erfahrungen auseinanderhalten wollen, auch wenn hier sicher nicht der Ort ist, eine Begriffsbestimmung zu leisten. Für mich umfasst eine mystische Erfahrung mehr als eine spirituelle Erfahrung, insbesondere in Bezug auf ihre Tiefe und wandelnde Kraft. In der Literatur werden die Begriffe oft synonym gebraucht, wobei unter „spirituellen Erfahrungen“ zum Teil auch Erlebnisse mit paranormalen Wahrnehmungen verstanden werden. Ich kann zum Beispiel eine tiefe spirituelle Erfahrung in der Natur machen; wo ich das Verbundensein zur Natur spüre, zum Kosmos, zu allem Möglichen. Ich kann von dieser Erfahrung berührt, vielleicht auch berauscht sein und in ihr schwelgen. Trotzdem hat sie nicht unbedingt so starke Wirkungen auf mich, dass sie mich verändert, meine Werte oder meine Haltung zur Welt. Soweit ich weiß, sind die Folgewirkungen ein wesentlicher Hinweis für die Authentizität einer mystischen Erfahrung. Hat die Erfahrung die Kraft, einen Menschen zu verändern? Hin zu mehr Güte, mehr Demut und mehr Integrität? Trägt sie zur persönlichen Entwicklung bei? Ich habe im Rahmen der Krankheitsbewältigung auch Erfahrungen gemacht, die ich als spirituell bezeichnen würde; Erfahrungen also, denen Merkmale wie Raum-und-Zeit-Transzendenz, Glückseligkeit oder Einheitserleben fehlen, die aber dennoch mit einem tiefen Verbundenheitsgefühl mit der Natur und dem Gefühl der Ich-Transzendenz einhergingen. Als es mir damals so schlecht ging, habe ich mir zum Beispiel Tulpensträuße gekauft und mich direkt vor sie gesetzt. Ich hatte regelrecht das Gefühl, ich könnte mit den Tulpen in Kontakt gehen, auch wenn das vielleicht ein bisschen verrückt klingt; ich habe eine ganz tiefe Verbundenheit zu diesen Tulpen gespürt. Damals habe ich mich Tag für Tag vor die Tulpensträuße gesetzt und zugesehen, wie sie in der Vase weitergewachsen sind, wie sie sich entwickelt haben. Allmählich bin ich dann zur der Erkenntnis gekommen, dass diese Tulpen von ihrer Zwiebel getrennt sind, von ihrem Kern völlig und endgültig abgeschnitten sind und trotzdem in der Vase weiterwachsen. Ich dagegen hatte „nur“ eine schwere Erkrankung – warum sollte ich da nicht weiter wachsen können? Diese erfahrene Einsicht hat mir sehr geholfen. Das würde ich als eine spirituelle Erfahrung betrachten. Natürlich hat mich auch diese Erkenntnis beeinflusst und ich habe sie zur weiteren Entwicklung genutzt. Sie hat mir wichtige Anstöße zum Weiterdenken gegeben, trotzdem hat sie mich nicht gewandelt. Die mystischen Erfahrungen dagegen haben mein Weltbild erschüttert. Ich denke, es können sowohl spirituelle als auch mystische Erfahrungen die Krankheitsverarbeitungsprozesse sehr beeinflussen. Das ist überhaupt keine Frage. Aber mystische Erfahrungen haben eine andere Kraft oder Wirkungsmacht als spirituelle Erfahrungen.

TP: Gibt es aus Ihrer Sicht noch andere Aspekte dieser Erfahrungen, die für die Krankheits­verarbeitung wichtig geworden sind? Haben die zum Beispiel Ihre Gedanken beeinflusst, bestimmte Gedanken gebremst oder Ihnen klar gemacht, dass bestimmte Gedanken absurd sind, zum Beispiel solche an Suizid oder vielleicht: Ich werde nie wieder nach vorne kom­men oder so etwas? Sind diese Gedanken dann nicht mehr aufgetreten oder konnten Sie die innerlich besser begrenzen oder von sich weghalten?

EP: Diese Gedanken sind trotzdem da gewesen. Ich konnte ihnen aber anders begegnen. Ich konnte sie zum Teil begrenzen oder sie als Gedanken, die einem momentanen Gefühlszustand entsprechen, stehen lassen und ernstnehmen. Sie waren dadurch vielleicht ein bisschen weniger bedrohlich.

Winston Churchill wird ein Satz zugeschrieben, der lautet: „If you’re going through hell, keep going.“ Das ist es eigentlich. Wenn du im Schmerz, in der Angst oder in der Hölle gefangen bist, dann geh weiter. Hierbei hat mir die Erfahrung des fast überirdischen Geborgenseins sehr geholfen, ohne sie hätte ich das vermutlich nicht ertragen. Dieses Geborgensein bildete für mich einen sicheren Boden, um mich den anderen Sachen stellen zu können. Wenn man weiß, man ist gehalten, bringt man vielleicht eher den Mut auf, sich die Ängste oder den Schmerz anzuschauen und sie auszuhalten, sie nicht zu betäuben oder wegzudrängen. Zusätzlich hat mir dabei auch die Erkenntnis geholfen oder Hoffnung gegeben, dass alles in permanenter Veränderung begriffen ist. Wenn alles in permanenter Wandlung begriffen ist, dann besteht die Chance, dass der aktuelle Zustand, so schlimm wie er für mich im Moment auch immer ist, sich auch wieder verändert. Diesen Gedanken fand ich äußerst hilfreich. Dass das Einzige, worauf man sich tatsächlich verlassen kann, die Veränderung ist, gilt auch für Krankheitsprozesse, selbst wenn es nicht immer in die Richtung geht, die man sich erhofft.

TP: Diese Erfahrungen haben Ihnen eine Art Stabilität und Souveränität vermittelt im Umgang mit den Leidenszuständen, mit den Schmerzen, mit den Ängsten. Vielleicht wären Sie sonst gegenüber diesen Zuständen in eine Fassungslosigkeit geraten. Das war ja auch ein Stück weit der Fall, glaube ich. Anfangs waren Sie ja fassungslos. Sie haben zum Teil mit Ver­drängung oder Dissoziation reagiert und das zeitweilig gar nicht mehr adäquat wahrnehmen können. Durch die mystischen Erfahrungen haben Sie innerlich eine Gefasstheit gewonnen beziehungsweise diese ist dadurch begünstigt worden. Mit dieser Gefasstheit konnten Sie authentischer, klarer, direkter den Zuständen begegnen und sich damit auseinandersetzen.

EP: Eine Fassungslosigkeit und Verzweiflung, wie sie damals in mir geherrscht hat, hätte durch ein Geborgensein in einer Familie oder Partnerschaft gar nicht aufgefangen werden können, weil sie viel zu groß und zerstörerisch war. Dazu kam das Problem: Wie viel mute ich meinen Angehörigen an Schmerz zu und wie sehr würde ich sie davor schützen müssen oder schützen wollen? Wie stark leide ich damit alleine? Und kann ich mich diesem „Allein-Leiden“ überhaupt aussetzen oder ist die Angst zu groß, darin unterzugehen? Da ist man wieder in dem Spannungsfeld von Zulassen und Abwehren mit seinen ganzen Facetten drin. Doch das Geborgensein im Über-Wirklichen, diese unfassbar bergende Kraft, dieses Liebevolle war stärker als jede Angst. Mit diesem grundlegenden Empfinden von Geborgenheit konnte ich dem anderen begegnen und konnte die Angst, die Fassungslosigkeit und den Schmerz tatsächlich im vollen Ausmaß zulassen, weil die Geborgenheit trotzdem größer und stärker war.

TP: Wie haben Sie Begegnungen mit anderen Menschen, die in Krankheitsprozessen gefan­gen waren und nicht über solche Erfahrungen verfügten, erlebt? Haben Sie sich dadurch womöglich auch isoliert gefühlt? Haben Sie sich in einer Kommunikationslosigkeit befunden, weil Sie das auf dieser Ebene Erfahrene nicht kommunizieren konnten? Wie hat sich das für Sie angefühlt, dass Sie mit dieser besonderen Erfahrung ausgestattet waren im Unterschied zu anderen?

EP: Es gab tatsächlich eine Kommunikationslosigkeit und die fehlende Möglichkeit, darüber zu sprechen. Mit den Ärzten und Psychologen habe ich nicht darüber gesprochen, weil ich das Gefühl hatte, wenn ich denen so etwas erzähle, dann kommen die mit der Erklärung, dass es vielleicht Einbildung oder Halluzinationen waren. Ich hatte dagegen das ganz klare Gefühl, dass es so etwas ganz sicher nicht war. Und ich wollte mir von denen diese Erfahrungen nicht durch irgendwelche rationalisierenden Erklärungen kaputt machen lassen, vor allem nicht das von mir als heilig Empfundene. Dazu kam das relativ sichere Gefühl: Die wissen sowieso nicht, wovon ich spreche. Zugegebenermaßen habe ich allerdings gar nicht erst versucht, mit ihnen darüber zu sprechen. Es hätte ja prinzipiell sein können, dass sie auch über solche Erfahrungen verfügen. Aber ich wollte diese Erfahrung schützen; ich mochte das Heilige, das diese Erfahrung begleitet hat oder ein ganz wesentlicher Bestandteil war, nicht interpretieren lassen. Ich mochte das nicht rational erklärt haben. Jeder Versuch, das Göttliche oder das Transzendente zu erklären, würde scheitern, weil man es nicht erklären kann. Genauso war es mit diesen Erfahrungen.

Mit anderen Patienten habe ich kaum darüber gesprochen, lediglich einmal mit einem Patienten aus dem Reha-Zentrum. Von dem wusste ich, dass er seit 20 Jahren meditiert. Aber bei dem sah ich mich – für mich überraschend – mit dem Phänomen des spirituellen Neids konfrontiert. Der hat sinngemäß gesagt: Wieso machst du solche Erfahrungen? Ich meditiere schon 20 Jahre, aber ich habe so was noch nie erlebt und möchte das endlich mal erleben. Der hat mit Abwehr darauf reagiert, weil er das nicht hatte. Das war für mich sehr eigenartig, weil diese Erfahrungen, die ich gemacht habe, von mir ja nicht beabsichtigt waren oder gar angestrebt wurden. Anfangs wusste ich ja nicht mal, dass es so etwas überhaupt gibt. Nachdem ich später noch zwei, drei weitere Erfahrungen mit spirituellem Neid gemacht habe, habe ich nicht mehr darüber gesprochen. Einmal habe ich noch andeutungsweise einem Psychologen gegenüber etwas dazu geäußert. Da kamen dann Erklärungen wie: Ja, das sind irgendwelche neurobiologischen Prozesse im Hirn, welche in Notsituationen so etwas auslösen. Das hat für mich nicht gegriffen. Selbst wenn neurobiologische Prozesse die Ursache dieser Erfahrungen sein sollten, hatte ich dennoch das Gefühl, diese Erklärung hat mit der Erfahrung selbst überhaupt nichts zu tun. Ich hatte letztlich immer das Gefühl, dass diese Erfahrungen nicht erklärt werden können und man zu Pseudoerklärungen greift, weil man es nicht weiß oder nicht erklären kann und trotzdem etwas dazu sagen will. In mir hat sich der Eindruck verstärkt, dass solche neurobiologischen Erklärungen Prozesse betreffen, die zwar in Körpern, in Manifestationen des Geistes ablaufen, die aber mit dem Geist, der da drunter liegt und alles durchdringt, nichts zu tun haben. Wie will man ein rein geistiges Phänomen über neurobiologische Prozesse erklären? Das geht vermutlich nicht. Deswegen hatte ich den Eindruck, das trifft nicht zu, das geht am Eigentlichen vorbei. Aber auch das kann mir natürlich als Abwehr wissenschaftlicher Erkenntnisse ausgelegt werden; vielleicht, weil ich meine Erfahrungen als etwas Besonderes schützen will. Mein persönlicher Verdacht ist – ganz unwissenschaftlich -, dass es eine größere Realität gibt und wir in Momenten, wie ich sie damals erlebt habe, als ich außer mir war vor Angst und Schmerz, offen werden für das Transzendente oder Göttliche und es uns erreichen kann. Wenn wir haltlos ins Bodenlose fallen und uns keine Konzepte, Konventionen, wissenschaftlichen Erklärungen oder emotionalen Bindungen mehr tragen, dann werden wir wie genötigt, dieses „Andere“ zur Kenntnis zu nehmen. Aber das ist nur mein persönlicher Verdacht.

TP: Wie war es mit anderen Menschen, die im Krankheitserleben gefangen waren? Konnten Sie diesen Menschen etwas vermitteln? Wie haben Sie kommuniziert, was Sie Ungewöhnliches erlebt hatten?

EP: Ich habe das gar nicht kommuniziert, ich hatte auch nicht den Wunsch oder das Bedürfnis, das zu kommunizieren oder gar irgendwas vermitteln zu wollen. Wenn mich jemand angesprochen hat, weil er eine Frage in dem Bereich hatte, dann habe ich natürlich geantwortet. In einem solchen Fall habe ich auch etwas von mir erzählt. Als ich nach Antworten gesucht und viel gelesen und mir Vorträge angehört habe, bin ich auch mit Menschen konfrontiert worden, die sich viel mit Spiritualität beschäftigt haben, die zum Teil lange meditiert haben. Mich hat allerdings die missionierende Haltung von einigen abgestoßen. Dieses ständige Erklärenwollen, was man wie tun müsste, um erleuchtet oder wenigstens sehr spirituell zu werden. Das fand ich anstrengend. Ich hatte für mich immer das Gefühl, dass diese Erfahrungen für sich selbst wirken. Vor allem in der Form, dass sie in mir wirken und durch mich gegenüber anderen und dass ich darüber diese Erfahrung vermitteln kann. Aber nicht, indem ich sie erkläre oder indem ich versuche, Leute anzuleiten, wie sie selber vielleicht zu so einer Erfahrung kommen können. Das schon deshalb nicht, weil ich ganz klar sagen muss: Das weiß ich nicht. Das würde mir schlicht anmaßend vorkommen, wenn ich sage, ich habe solche Erfahrungen gemacht und deswegen weiß ich jetzt, „wie es geht“.

TP: Interessant wäre jemand, der vielleicht zehn Jahre meditiert hat und dann durch einen neurobiologischen Zufall oder eine sich zufällig ergebende besondere physiologische Konstella­tion eine solche Erfahrung macht. Der würde vielleicht denken, das lag an den zehn Jahren Meditation und würde versuchen, diese Medikationstechnik als den „Weg dahin“ zu verkaufen. Nach dem Motto: „Du brauchst es nur zehn Jahre so zu machen, dann kommst du dahin“. Es können aber auch andere Probleme bei der Verarbeitung solcher Erfahrung auftreten. Zum Bei­spiel, inwieweit fühlt man sich auserwählt? Fühlt man sich vielleicht in einer besonderen Weise durch Gott oder ich weiß nicht wen begünstigt? Solche Phantasien können da ja aufkommen.

EP: Das Gefühl des Auserwähltseins hatte ich nie, ich war nur sehr dankbar für die Erfahrungen. Insbesondere für die Erfahrung, bei der ich das Gefühl hatte, „Gott hat mich gefunden“. Dennoch hatte ich immer das Gefühl, dass das eine Erfahrung ist, die jedem zukommen kann, die nichts mit Auserwähltsein zu tun hat. Mir ist sie glücklicherweise in dem Moment widerfahren, wo ich sie vielleicht am dringendsten gebraucht habe. Diese Vorstellung, irgendwas Besonderes oder auserwählt zu sein, kommt mir regelrecht absurd vor, weil ich zutiefst davon überzeugt bin, dass dieser transzendente Kern, dieses Göttliche in jedem von uns ist. Egal, wie der Mensch sich in der Welt präsentiert, welche gesellschaftliche Stellung er hat oder welcher sozialen Schicht er angehört. Dieser „göttliche Funke“ ist in jedem Menschen. In Kontakt mit diesem Funken zu gehen und solche Erfahrungen zu machen, liegt somit auch in einem möglichen Erfahrungsspektrum eines Jeden. Schon deswegen ist es für mich nichts Auszeichnendes. Es ist eher was Normales oder Natürliches, was passieren kann, was aber nicht passieren muss.

Diese Erfahrung ist so tief und so sehr im Innersten stattfindend, dass der Begriff des Spektakulären oder des Auserwähltseins schon deshalb fehlgehen würde, weil Auserwähltsein wieder Präsentation nach außen bedeuten würde: „Ich bin auserwählt und deswegen stehe ich über den anderen“. Oder: „Deswegen muss ich andere Menschen in ihrer spirituellen Entwicklung anleiten“. Das hat vor allem etwas mit der Darstellung nach außen zu tun. Doch was diese Erfahrung ausmacht, ist nicht die Darstellung nach außen, sondern die Wirkung nach innen. Und von innen wirkt sie wieder nach außen, aber eben erst nachgeordnet. Die innerlich verwandelnde Kraft dieser Erfahrung ist das Wesentliche. Was die Erfahrungen bei mir bewirkt haben, entspricht vielleicht am ehesten einer Art Entgegnung auf das, was Jesus gesagt hat: Was ihr dem Geringsten meiner Brüder tut, das tut ihr mir. Es geht nicht um Außendarstellung oder Demonstrieren eines Auserwähltseins. Das ist Narzissmus und hat für mich nichts mit mystischer Erfahrung zu tun, auch nicht mit der Entwicklung von Demut. Sich Menschen zuzuwenden, denen es nicht so gut geht, Obdachlosen oder weiß ich wem und das zu machen in dem Bewusstsein: Ich mache das nicht, weil ich ein besserer Mensch bin, sondern ich mache das, weil mein Gegenüber genauso ein Mensch ist wie ich. Und auch der hat diesen göttlichen Funken in sich, aber vielleicht in seinem Leben sehr viel Leid erlebt. Vielleicht habe ich die Möglichkeit, ihm wenigstens für einen Augenblick sein Leben ein bisschen leichter zu machen. Da ist es egal, ob das irgendjemand mitkriegt, sieht oder würdigt als tolle Unterstützung. Das meine ich mit dem Wirken nach innen und von dort aus wieder nach außen. Hat mich die mystische Erfahrung verändert, hat sie mich menschlicher gemacht? Hat sie in irgendeiner Weise meine persönliche Entwicklung beeinflusst? Das ist doch der Punkt.

  • Literaturverzeichnis

    Lundmark M (2010): When Mrs. B met Jesus during radiotherapy. Archive for Psychology of Religion 32: 27–68

    Passie T, Petrow E (2012): Folgewirkungen mystischer Erfahrungen. In: Passie T, Belschner W, Petrow E (Hrsg.): Ekstasen: Kontexte – Formen – Wirkungen. Würzburg, S. 257–278

    Porath P (2006): The lived experience of an unexpected, unintentional mystical experience. Dissertation. Santa Barbara, CA

    Renz M (2003): Grenzerfahrung Gott. Spirituelle Erfahrungen in Leid und Krankheit. Freiburg

    van Lerberghe M (2009): The healing moment: A heuristic study of the lived experience of healing of a select group of women in midlife. Dissertation. Cincinnati, Ohio

    Wilber K (2007): Integrale Spiritualität. München